„Greta meets Corona“

Die Corona-Krise hinterlässt ihre Spuren überall. Im Interview mit HORIZONT teilt CROSSMEDIA-Gründer Markus Biermann seine Gedanken zu fundamentalen Themen aus Gesellschaft, Wirtschaft und folglich auch dem Marketing, welche sich im Zuge der Krise neu zu diskutieren lohnen:

Crossmedia: Ein paar wenige Agenturleute haben zum Thema „Corona und die Folgen“ mehr zu sagen als wohlfeile Platitüden – Markus Biermann gehört dazu

So viel Lust auf große Reden war selten – aber irgendwie scheint Corona auch das Bedürfnis auszulösen, über die wichtigen Dinge
noch einmal grundsätzlich nachzudenken. Und es ist auch die Zeit für schonungslose Bilanzen. Zum Beispiel so eine wie die von Markus Biermann: „Die Optimierung der heute gängigen KPIs trägt kaum etwas zu den übergeordneten Unternehmenszielen bei.“ Recht besehen sei das „ein dramatischer Befund“.

Herr Biermann, wie geht es Ihnen?
Bitte nicht so investigative Fragen gleich zu Beginn … Nein, alles gut, auch wenn man bisweilen das Gefühl hat, von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends in irgendwelchen Video-Meetings zu sitzen. Man muss sich antrainieren, sich ganz bewusst mal eine Auszeit zu nehmen und zum Beispiel eine Stunde mit dem Rad durch die Gegend zu fahren. Ansonsten wird die Zündschnur kurz. Da kann es dann schon mal vorkommen, dass ich eines unserer Kinder anpflaume, wenn es wieder mal seinen schmutzigen Teller nicht in die Spülmaschine stellt.

Unternehmer sind eben auch nur Menschen. Und wie ist die Stimmung in der Firma?
Erstaunlich gut, muss ich sagen. Ich glaube, wir haben intern sehr gut und sehr frühzeitig kommuniziert und die nötigen Entscheidungen getroffen. Zum einen haben wir natürlich vor der eigenen Tür gekehrt und alle Maßnahmen, die nicht dringend notwendig sind, gestrichen.
Worauf ich besonders stolz bin, ist die Tatsache, dass alle Mitarbeiter – 100 Prozent – ihre Zustimmung zu einer Vertragsergänzung
gegeben haben. Und das alles binnen drei Tagen.

Sie sprechen von Kurzarbeit, nehme ich an.
Ja, genau. Es geht um die solidarische Zustimmung aller, auf einen Teil ihres Gehaltes zu verzichten. Eben nicht nur die führenden Mitarbeiter, die sowieso sofort zur Stelle waren.

Entlassen Sie Leute?
Nein, auch die Mitarbeiter in Probezeit nicht. Aber wir haben natürlich erst einmal Projekte zurückgestellt und werden bereits geplante neue Stellen bis auf Weiteres nicht besetzen. Agenturfeste oder Renovierungen wird es bis auf Weiteres nicht geben. April und Mai sind geprägt von dem Gedanken, dass sich alle solidarisch verhalten. Ob das reicht, kann man heute aber natürlich noch nicht sagen.

Viele rechnen mit einem Agentursterben. Muss man sich Sorgen machen um Crossmedia?
Wir sind sehr solide aufgestellt und akut sicher nicht in einer gefährlichen Lage. Viel wird davon abhängen, wie es mit der Coronakrise weitergeht und der Forecast für 2021 aussehen wird. Wir haben sehr schnell gehandelt und einen Hügel erklommen. Aber vielleicht wartet hinter dem Hügel ja noch ein Himalaya-Gebirge. In dem Fall muss man sich natürlich noch einmal ganz andere Schuhe anziehen.

Wie verhalten sich die Kunden?
Die Mehrheit verhält sich zum Glück sehr partnerschaftlich. Aber es gibt auch welche, die uns mit der Forderung konfrontieren, in der jetzigen Situation doch bitte auf unser Honorar zu verzichten. Die verstehen auch nicht, dass sich für Mediaagenturen die Lage ganz anders darstellt als zum Beispiel für Kreativagenturen. Wenn ein geplantes Projekt kurzfristig gestrichen wird, ist das natürlich bitter für eine Agentur. Wir verdienen einen großen Teil unseres Geldes aber nach wie vor erst durch die Media-Schaltung. In dem Moment, wo ein Kunde storniert, fehlt uns also das Einkommen für eine in der Vergangenheit bereits geleistete Arbeit. Hinzu kommt, dass auch die vielen Stornos natürlich organisiert werden müssen. Es ist nicht so, dass wir hier nichts zu tun haben, es gibt auch noch Kunden, mit denen das Geschäft ganz normal weiterläuft. Branchen wie Airlines oder Sportwetten haben dagegen ein massives Business-Problem – das sich natürlich auch auf uns auswirkt.

Sagen Sie etwas zur konkreten Geschäftsentwicklung von 2019 und 2020.
2019 war durchaus positiv und von Wachstum gekennzeichnet. Wir verzeichnen ein ordentliches Plus von knapp 10 Prozent. Im Verlauf bis Ende des Jahres haben wir noch zwei, drei größere Kunden gewonnen, die wir aber – Sie kennen das ja – leider noch nicht alle nennen können. Aber wir sind natürlich stolz, dass wir Stage Entertainment, Stepstone, Suzuki und Leifheit neu dazugewonnen haben. Vor der Krise sind wir davon ausgegangen, dass 2020 das wirtschaftlich beste Jahr unserer Geschichte wird.

Lassen Sie uns über das große Ganze sprechen. Wie wird man in fünf Jahren auf Corona zurückblicken? Als eine Krise, die alle heftig durchgerüttelt hat, nach der es aber wieder normal weiterging? Oder als echte Zäsur?
Wie viel Zeit haben Sie?

Erzählen Sie einfach mal.
Gut, dann weihe ich Sie mal in ein paar Gedanken ein, die ich gerade mit ein paar Leuten hier teile. Es kann durchaus sein, dass wir nach der Coronakrise zur Normalität zurückkehren. Ich persönlich halte aber ein anderes Szenario für wahrscheinlicher. Ich glaube, dass sich Corona mit Greta paart.

Interessante These. Das müssen Sie ein bisschen genauer ausführen.
Greta steht als Galionsfigur der „Fridays for Future“-Bewegung für eine Fraktion von Menschen, die den Finger in die Wunde legen und etwas anderes wollen als die bisherige Form unseres Wirtschaftslebens. In der Markenkommunikation hat das zu einem Purpose-Marketing geführt, das sehr häufig nicht viel mehr war als ein oberflächliches Greenwashing. Durch die Coronakrise kommen jetzt viele Themen endgültig und mit noch mehr Wucht an die Oberfläche und werden dort auch bleiben. 2008 galten Banker als systemrelevant, heute sind es Ärzte, Pflegekräfte und viele soziale Berufe. Ich war nie ein Freund eines bedingungslosen Grundeinkommens, aber das ist sicherlich eines der Themen, über die wir jetzt diskutieren werden. Und ich bin überzeugt, dass wir Produktionsstätten wieder stärker in Europa ansiedeln werden, um unsere Abhängigkeit von China zu reduzieren. Das ist eine der ganz wichtigen Lektionen der vergangenen Wochen.

Weniger Globalisierung? Da werden die Neoliberalen jetzt aufheulen.
Ich bin alles andere als ein Kommunist. Aber ich bin auch nicht der Meinung von Gabor Steingart, wir bewegten uns gerade von einer sozialen Marktwirtschaft in Richtung staatsgelenkter Wirtschaft. In einer so dramatischen Krise, wie wir sie jetzt erleben, braucht es auch autokratische Maßnahmen. Die werden nach meiner Überzeugung aber ganz sicher nicht dazu führen, dass wir uns an eine neue Unfreiheit gewöhnen.

Sondern?
Ich glaube, wir stehen am Anfang des Endes des Merkantilismus und vor einer Renaissance einer wirklich sozialen Marktwirtschaft.
Die Bevölkerung erkennt gerade, dass nicht alles einem eindimensionalen Kapitalismus untergeordnet werden darf. Was wir sehen werden, ist eine breite Diskussion über die Werte, die unsere Gesellschaft wirklich ausmachen.

Was bedeutet das alles fürs Marketing? Die Antwort auf Greta Thunberg war Purpose. Was ist die Antwort auf Greta Thunberg plus Corona?
Die Antwort darauf haben wir noch nicht, wir sind aber auf dem Weg. Was aber sicher nicht mehr funktionieren wird, ist, sich irgendeinen Quatsch als Purpose auf die Fahnen zu schreiben. Solche Unternehmen bekommen künftig die gelb-rote Karte.

Sie haben 2020 zum „Jahr der Marke“ ausgerufen. Jetzt ändert sich, wenn nicht alles, so doch viel – warum halten Sie dennoch an diesem Motto fest?
Weil das Thema jetzt wahrscheinlich noch relevanter wird, als es ohnehin schon war. Was wir seit Jahren sehen: Obwohl viele Unternehmen ihre digitalen Werbespendings massiv gesteigert haben, gelingt es Marken immer weniger, sich zu differenzieren. Das ist ein dramatischer Befund, der endlich alle wachrütteln sollte. Es gibt eine Diskrepanz, der bisher viel zu wenig Beachtung geschenkt wird: Die Optimierung der heute gängigen kurzfristigen KPIs trägt kaum etwas zu denübergeordneten Unternehmenszielen Wachstum und Profilierung der Marken bei. Markenarbeit ist heute immer so gut wie die KPIs vom Vortag, die oft nur den kurzfristigen Erfolg abbilden. Der Preis dafür ist eine zunehmende Unsichtbarkeit von Marken. Wir brauchen eine weitere neue Bemessungsgrundlage, einen „Wohlfühl“-KPI. Daran arbeiten wir.

Das ist eine starke These: Die Mediaagenturen haben es zwar geschafft, irgendwelche digitalen Performance-KPIs immer weiter zu optimieren – dabei aber die wirklich wichtigen und nachhaltigen Erfolgsfaktoren aus den Augen verloren.
Ich will hier gar niemanden bashen. Die Entwicklung der vergangenen Jahre lässt sich gut mit den Mitteln der Organisationslehre beschreiben. Mit der Digitalisierung ist etwas Neues entstanden, das man erst einmal verstehen und durchdringen musste. Hinzu kam, dass ein altes Problem endlich lösbar schien: nämlich die exakte Erfolgsmessung von Marketingaktivitäten. Die Kommunikation hat die Spielwiese Digital erkannt, ausgeleuchtet und bis ins letzte Detail bespielt. Das ist auch alles gut und richtig so. Nur müssen wir jetzt eben erkennen: Was plötzlich fehlt, sind Kreativität und Differenzierung in der Positionierung gegenüber anderen Marken. Das führt auch dazu, dass Marken Gefahr laufen, in eine zu große Abhängigkeit gegenüber Amazon zu geraten.

Okay, und jetzt?
Ist es höchste Zeit, die Dinge neu auszutarieren und sich wieder bewusst zu machen, wofür man eine Marke braucht und was man tun muss, damit sie stark ist und ihre eigentliche Aufgabe erfüllen kann. Früher wurde immer über die Frage diskutiert, ob Ausgaben für Marketing einen Kostenblock oder eine Investition darstellen. Ich gehe einen Schritt weiter und sage: Die Marke ist das Rückgrat eines Unternehmens! Ohne dieses Rückgrat wird man keine neuen Mitarbeiter bekommen, keine weiteren Innovationen an die Marke anbringen können und keine Differenzierung bei Amazon oder im Regal erreichen. Für Agenturen, die rein effizienzgetrieben irgendwelchen Kurzfrist-KPIs hinterherjagen, statt sich ihrer eigentlichen Aufgabe zu widmen, wird es nun schwierig. Und das wäre eine gute Entwicklung.

Eines der zentralen Themen 2019 war Branding versus Performance Marketing. Sie haben in dieser Debatte eine sehr sichtbare Rolle gespielt und sich auch sehr klar positioniert.
Ja, aber ich möchte nicht in dem Sinne missverstanden werden, gegen Performance Marketing zu sein. Crossmedia steht immer schon für beides, für Markenarbeit und für Sales. Beides gehört zusammen, das ist für uns hier eine Selbstverständlichkeit.

Das haben wir schon so verstanden. Ihr Punkt ist, dass die Balance nicht mehr stimmt.
Um noch einmal auf die Organisationslehre zurückzukommen: Wenn es nur noch darum geht, einen Laden auf Effizienz zu trimmen, bleiben Themen wie Produktinnovation und Differenzierung automatisch auf der Strecke. Sie hatten in den vergangenen Wochen in HORIZONT ein paar kontroverse Artikel zur Rolle der Auditoren in unserem Geschäft. Man hat es hier teilweise tatsächlich mit Leuten zu tun, bei denen man sich fragt: Wie wollen die in der Lage sein, die Qualität unserer Arbeit zu beurteilen? Und warum soll jetzt gerade dieser KPI der entscheidende sein? Die Auditoren haben sicher mit dazu beigetragen, dass viele Unternehmen nur noch eindimensional auf Effizienz gucken. Wenn Sie aber nichts haben, was Sie und Ihre Marke von anderen unterscheidet, haben Sie auch keine Zukunft.

Zur Person: Ausbildung zum Verlagskaufmann, danach von 1989 bis 1996 angestellt bei BMZ Werbeagentur, Optimedia und schließlich Jäschke Optimum Media – das war es dann auch schon mit den Karrierestationen des Markus Biermann.
Denn: 1997 gründete der gebürtige Bochumer in Düsseldorf die Mediaagentur Crossmedia.
Dass die es schafft, sich seit nunmehr über 20 Jahren erfolgreich in einer Branche zu behaupten, die geprägt ist von mächtigen Network-Agenturen, zeigt die Qualität des Unternehmers Biermann.

Unabhängig seit 1997: Die 1997 von Markus Biermann gegründete Mediaagentur Crossmedia beschäftigt heute im Stammsitz Düsseldorf sowie den Büros in Berlin, Hamburg, Bielefeld, London und New York rund 550 Mitarbeiter. Neben Gründer Biermann bilden fünf weitere Manager die Geschäftsführung. Zu den Kunden zählen unter anderem Aktion Mensch, ATU, Lidl, Conrad und Der Spiegel.
Aktuell sorgt Crossmedia mit einem eigenen Dossier zu Corona für Aufmerksamkeit. Das Papier soll unter anderem den Kunden eine strategische Neubewertung ihrer Lage ermöglichen. Im Interview mit HORIZONT Online riet Crossmedia-Manager Florian Holub, sich frühzeitig auf das Ende der Krise vorzubereiten: „Jetzt sollten Kampagnen entwickelt werden, um später keine Zeit zu verlieren.“

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