Das passiert, wenn man beim Thema Retail Media alles in einen Topf wirft

Retail Media ist das Thema der Stunde. Alle wollen mitreden, alle wollen ganz vorne mit dabei sein und ein Heilsversprechen jagt das nächste. Michael Schmitz, Managing Partner der Mediaagentur Crossmedia, mahnt in seinem Gastbeitrag zu mehr Besonnenheit, damit die großen Erwartungen nicht in große Enttäuschungen umschlagen:

Die Marketingbranche hat mal wieder ein neues Hypethema. Und wie das immer so ist, bringt jedes Hypethema neue, sich überschlagende Heilsbotschaften mit. Nur damit es auch jeder weiß und in fünf Jahren nicht auf dem falschen Fuß erwischt wird: „Retail Media überrundet TV – schon 2028“!

Aber stimmt diese Einschätzung überhaupt oder bewegen wir uns sehr stark in Richtung „Gipfel der überzogenen Erwartungen“ des Gartner-Hype-Cycles? Wie fast immer gilt: Es ist komplizierter, als es scheint und es ist sinnvoll, einmal genau hinzuschauen.

Momentan wird von Medien, Agenturen und Retail-Anbietern wie bei anderen Hypethemen zuvor – den Älteren unter uns ist das Metaverse möglicherweise noch ein Begriff – alles in seiner Bedeutung überhöht, in einen Topf geworfen und kräftig durchgerührt. Die Werbemöglichkeiten reiner Online-Shops wie Amazon, die breiten Online- und Offline-Angebote der Filialisten sowie die Betrachtungsweise und möglichen Potenziale endemischer und nicht-endemischer Kunden (also Werbekunden, die nicht im jeweiligen Shop verkaufen) – alles wird gleich betrachtet.

Dadurch besteht die Gefahr, dass ein an sich sehr potentes und relevantes Thema, wie Retail Media, zu Unrecht wieder beerdigt wird, wenn die Entwicklungen nicht genauso eintreten, wie gewünscht. Und das werden sie exakt so wie in der herbeigesehnten Form auch nicht. Denn es wird gerade, überspitzt formuliert, kein einziger Joghurtbecher mehr verkauft, nur weil jemand das Produkt auf den physischen oder datengetriebenen Werbeflächen eines Elektronikmarkts gesehen hat. Es werden aber sicherlich mehr Sportunterhosen eines eher unbekannteren Herstellers durch ein Sponsored Product mit guten Reviews in einem Online-Shop verkauft, wenn die Sichtbarkeit und das Vertrauen in die Produktqualität ohne diese gezielte Werbung eher gering gewesen wäre. Wie hoch der Anteil der inkrementellen Verkäufe allerdings tatsächlich ist, ist in vielen Fällen immer noch ein Rätsel.

Im Vorteil: Anbieter mit breiter Produktpalette
Sehr gute Chancen, Retail Media zu einer Erfolgsgeschichte zu machen, haben also Anbieter mit einer möglichst breiten Produktpalette. Das hat zwei Gründe: Zum einen gibt es viele unterschiedliche Unternehmen mit einer Listung im jeweiligen Shop, die potenziell auf derjenigen Plattform werben könnten. Zum anderen gibt es auch viele unterschiedliche Kundenprofile, mit denen sich die Plattformen von monothematischen Händlern differenzieren können und durch ihren Datenschatz auch attraktiver für nicht-endemische Kunden werden.

Durch die immer weiter voranschreitende Entwicklung hin zur Cookieless World, schränken sich die Targetingmöglichkeiten für Werbetreibende immer weiter ein. Wohl denjenigen Unternehmen, die es einfacher haben, 1st-Party-Daten in ausreichender Menge zu generieren und nutzbar zu machen. Dies wird einem Großteil der Unternehmen allerdings wohl nicht in ausreichendem Maße möglich sein, so dass diese auf die datenschutzkonforme Nutzung von validen Daten externer Anbieter in geschlossenen Systemen angewiesen sind.

Marktplätze, wie Amazon, sind attraktiv, bringen aber neue Herausforderungen mit sich
Dies alles trifft zum Beispiel auf Amazon zu. Der Handelsriese bietet die passenden Werbemöglichkeiten und Technologien, hat eine extrem breite Kundenschicht und weiß wohl mehr über seine Kundschaft als viele andere Unternehmen. Doch auch wenn Werbekunden auf einer solchen Plattform sicherlich ihre Verkäufe skalieren können und Zugriff auf die passenden Daten haben, werden diese gelösten Herausforderungen durch neue Probleme ersetzt.

Eins davon ist eine starke Abhängigkeit von neuen Partnern. Werbekunden können relativ wenig unternehmen, falls Amazon seine Preisstruktur für Verkäufe anpasst, die Regeln für Datennutzung ändert, Techgebühren erhöht oder einfach seine Algorithmen so „optimiert“, dass sich die Regeln für Sichtbarkeiten und Klickpreise im Sinne Amazons anpassen. Darüber hinaus kommen neue Arbeitsbereiche und Aufgaben wie Shop-Optimierungen etc. hinzu, die Personal binden, das in Zeiten von Fachkräftemangel möglicherweise so noch nicht einmal vorhanden ist.

Was heißt das Ganze nun für Werbetreibende und die Erfolgsaussichten von Retail Media?
Es ist von entscheidender Bedeutung, sich auf Kundenseite Schritt für Schritt heranzutasten und auf Seiten der Retailer nicht mehr zu versprechen, als sie aktuell leisten können. Deshalb gilt: Weniger reden, mehr ausprobieren, forschen, Erfahrungen sammeln, Schritt für Schritt optimieren und gemeinsam die neuen Herausforderungen lösen.

Wenn es gelingt, das Thema nicht ganzheitlich durch überzogene Erwartungen in den Köpfen der Marktteilnehmer zu verbrennen und schlüssige Konzepte für nicht-gelistete Kunden zu generieren, wird sich Retail Media zu einem starken und wichtigen Baustein des Marketings entwickeln und eine sehr positive Zukunft haben. Ob die Bedeutung von TV dabei erreicht wird, ist aber eher zweifelhaft. Das liegt zugegebener aber auch an den Entwicklungen im TV-Markt, was aber wieder eine ganz andere Geschichte ist, die zu einem anderen Zeitpunkt erzählt werden soll…

 

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