Wem gehört der Screen?

Die Begeisterung für Streaming-Angebote steigt in der Corona-Pandemie. Nun wollen auch deutsche Angebote mit der globalen Konkurrenz mithalten. Welche Trends sich im Bereich Streaming und damit verbunden in der individualisierbaren Werbung abzeichnen, erklärt Dominik Etscheit, Deputy Client Service Director bei CROSSMEDIA, in der Horizont 4-5/2021:

Streaming: Wie deutsche Angebote mit der globalen Konkurrenz mithalten wollen.

Das Coronavirus verändert vieles – aber sorgt es auch für den endgültigen Tod des klassischen Fernsehens? Geht es nach Brian Fuhrer, einem der Chefs des Marktforschungsinstituts Nielsen, hat die Pandemie im Sommer vergangenen Jahres den finalen „Breaking Point“ heraufbeschworen, also den Moment, in dem selbst die letzte Bastion gefallen ist: die ältere Zielgruppe. Die Über-55-Jährigen hätten, zumindest in den USA, ihre Begeisterung für Streaming-Angebote entdeckt – und beibehalten. Eine Studie der Unternehmensberatung Roland Berger liefert ähnliche Ergebnisse für den deutschen Markt. Und Dominik Etscheit von der Mediaagentur Crossmedia sagt: „Der Trend der erhöhten Nutzung von Streaming-Inhalten wird auch nach der Pandemie anhalten. Wir werden zukünftig Zeit noch souveräner und selektiver nutzen wollen.“
Überraschend kommt das alles nicht, aber es passiert schneller als erwartet. Die großen Plattformen Google, Amazon, Apple, Netflix und Disney positionieren sich mit immer mehr Investitionen und Inhalten, weitere Streaming-Dienste von Hollywood-Giganten wie Warner (HBO Max) und Viacom CBS (Paramount+) stehen vor der weltweiten Expansion. Und die deutschen Angebote? Tun sich nach wie vor schwer. „Bisher fließt nur ein Bruchteil der Investitionen in Formate für die hauseigenen digitalen Plattformen. Es ist höchste Zeit für ein grundlegendes Umsteuern“, sagt Niko Herborg, Partner bei Roland Berger.
Mit grundlegenden Veränderungen kann zumindest Joyn dienen. Das Joint Venture von Pro Sieben Sat 1 und Discovery muss in ein paar Tagen seine langjährige Geschäftsführerin Katja Hofem ziehen lassen und verliert damit eine leidenschaftliche Expertin für Fernsehen und Bewegtbildinhalte. Auf sie folgen im Februar mit Jochen Cassel und Tassilo Raesig ein Finanz- und ein Tech-Profi, denen der klassische TV-Hintergrund nahezu komplett fehlt – was bei der Weiterentwicklung eines Digitalangebots, das sowohl auf Anzeigen- als auch auf Subscription- Erlöse angewiesen ist, nicht zwangsläufig ein Nachteil sein muss. Ein weiteres Pfund: Beide sind seit Start von Joyn an Bord und kennen das Produkt von der ersten Stunde an. Dennoch wartet auf sie möglicherweise schon bald der erste Ärger: Bei Discovery steht der globale Roll-out des eigenen Streaming-Angebots Discovery+ vor der Tür und damit die Frage, welche Auswirkungen ein weiteres potenzielles OTT-Angebot auf die Partnerschaft mit Joyn haben wird. In München äußert man sich verhalten: Unabhängig vom Joint Venture mit P7S1 schaue man sich die Produktmöglichkeiten von Discovery+ an und prüfe, in welcher Form und wann das im deutschsprachigen Raum Sinn machen könne. „Optionen“ würde jedoch der Deal mit Vodafone eröffnen: Demnach sollen die deutschen Kunden des Mobilfunkanbieters die Möglichkeit bekommen, den Streaming-Dienst zu abonnieren.
Eine mögliche Herauslösung von Discovery würde für Joyn zwei Themen wieder auf die Tagesordnung heben: zum einen die Frage nach der inhaltlichen Vielfalt, weil aufmerksamkeitsstarke Männer und Sportinhalte durch die Trennungverloren gehen würden, zum anderen eine potenzielle Zusammenarbeit mit TV Now, dem Streaming-Angebot der Mediengruppe RTL.
Die Werbungtreibenden der OWM fordern schon länger eine gemeinsame Plattform aller nationalen werbefinanzierten Angebote. Dies sei im Interesse der Kunden und der Zuschauer. Momentan ist das freilich noch Zukunftsmusik. Nicole Agudo Berbel von Seven-One Entertainment hat beim HORIZONT Restart Gipfel aber immerhin Gesprächsbereitschaft signalisiert.

TV NOW: Starker Plan

Spricht man mit Mediaagenturen, sind die Rollen der beiden großen Streaming-Angebote der Privatsender relativ klar verteilt. Die Nase vorn hat aktuell die Mediengruppe RTL mit TV Now, Joyn gerät leicht ins Hintertreffen. Dafür gibt es zwei Gründe: Einer ist der Ende 2020 angekündigte Schulterschluss mit der Deutschen Telekom und die künftige Integration von TV Now in das Angebot Magenta TV. Neben der inhaltlichen Attraktivität ist der Markt vor allem gespannt auf die Chancen, die die Zusammenarbeit im Bereich der individualisierbaren Werbung mit sich bringt. Dass es unbedingt kreativere Ansätze braucht, die über die klassischen Pre- und Mid-Rolls hinausgehen, betont Dominik Etscheit, Deputy Client Service Director bei der Mediaagentur Crossmedia, und sieht hier aktuell den zweiten Grund für das bessere Abschneiden von TV Now. Ein Beispiel ist etwa das Contextual-Video-Tagging, das die Ad Alliance mit dem Pilotkunden Rewe im Umfeld der Vox-Kochshow „Das perfekte Dinner“ mittlerweile sogar im linearen Fernsehen eingesetzt hat. Dabei erfolgt die Ausspielung der Werbung bei Nennung eines vom Werbekunden definierten Schlüsselwortes mithilfe von künstlicher Intelligenz nur in positiv assoziierten Szenen. Weitere Ansätze könnten Voice- Aktivierungen beinhalten oder den Launch von Werbung als „Pause Ad“, sagt Agentur-Manager Etscheit: „Die Werbefreiheit der Konkurrenz ist hierbei definitiv eine sehr große Chance für Joyn und TV Now, um zukünftig relevant zu sein.“

GAFA: Gefährliche Nähe

Die CES ist nicht nur die größte Technikmesse der Welt, führende TV-Unternehmen bekommen dort traditionell auch die Möglichkeit, ihre Pläne vorzustellen und damit die Trends für den Rest der Welt zu setzen. Es gibt Diskussionsrunden mit Google, Amazon, Apple und Netflix, gemeinsam mit CBS und Warner. Man spricht auf Augenhöhe – ganz so, als wäre es das ureigenste Geschäft der Plattformen, Bewegtbildinhalte zu produzieren. Und auch die Digitalkonzerne spüren 2020 die explodierende Bedeutung klassischer TV-Genres wie News. Corona, Donald Trump, die Black-Lives-Matter-Bewegung: Die aktuelle Nachrichtenlage vor Ort holt die Menschen zurück an den Fernsehbildschirm. Der Unterschied: Während kleinere Angebote wohl nie mit dem Datenpool und den Aussteuerungsmöglichkeiten der GAFA mithalten können, fällt es diesen umgekehrt nicht schwer, sich die Stärken klassischer Medien anzueignen – oder in sie zu investieren. Ende 2020 launchte Amazon in den USA eine kostenlose News App für Fire TV, die lokale Nachrichten für zunächst zwölf Städte bereitstellte. Wenn die Inhalte attraktiv genug sind, sind die Zuschauer offenbar zudem wieder dazu bereit, sich zu einer bestimmten Zeit vor den Screen zu setzen. Dem Nielsen-Marktforscher Brian Fuhrer zufolge hat sich lineares Streaming, also der Konsum von Live-Übertragungenauf den Plattformen, im vergangenen Jahr als der am schnellsten wachsende Bereich innerhalb der Streaming-Nutzung erwiesen. Beruhigend für die deutsche Konkurrenz ist nur eines: Bislang sind die globalen Plattformen größtenteils werbefrei.

JOYN: Ran an die Jugend

Ungeachtet interner Diskussionen und Umstrukturierungen machte Joyn Anfang dieser Woche mit einem Schwung inhaltlicher Ankündigungen auf sich aufmerksam. Mit 20 Formaten steigt allein die Zahl der Eigenproduktionen deutlich, darum herum soll „junger, mutiger Content, der authentisch ist, manchmal aneckt, aber dabei immer unterhält“, das Alleinstellungsmerkmal bleiben. „Wir streben auch weiterhin danach, der lokale Streaming-Anbieter Nummer 1 in Deutschland zu werden“, heißt es aus München. Geht es um den Kontakt zur heiß begehrten jungen Zielgruppe, ist Joyn mit dem Launch einer eigenen Community-Plattform zudem einen Schritt gegangen, der weniger für die Vermarktung als für die Nutzerbindung von Bedeutung ist. „Der Wunsch der Konsumenten, Teil einer Live- und Internet-Community zu werden, war nie so groß wie heutzutage“, sagt Crossmedia-Manager Dominik Etscheit. Das P7S1-Discovery-Angebot könne dadurch ein Teil davon werden. Letzteres ist vor allem für den kostenpflichtigen Bereich Joyn+ interessant, der mit Originals wie der Coming-of-Age-Serie „Katakomben“ oder dem Thriller „Blackout“ überzeugen will. Beide Bereiche – reichweitenstarker Gratis-Content und exklusive Inhalte im Subscription-Modell – befruchten sich Joyn zufolge gegenseitig: „Unser Freemium-Modell ist einzigartig am deutschen Markt und ermöglicht uns, verschiedene Zielgruppen zu bedienen, verschiedene Partnerschaften einzugehen und Content differenzierter auszuspielen.“

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