Marktanalyse: Wie heftig wackelt TV?

Matthias Bade | Geschäftsführer CROSSMEDIA

TV ist nach Print das nächste Sorgenkind der Mediawelt, das mit den Folgen der Digitalisierung zu kämpfen hat. Aber wie schlimm steht es wirklich um das Segment? Und was müssen TV-Vermarkter jetzt tun? Horizont.net fragte sechs Vertreter von Mediaagenturen nach ihrer Einschätzung, darunter Matthias Bade, Geschäftsführer CROSSMEDIA:

Wird nach Print nun das lineare Fernsehen das nächste Opfer der Digitalisierung? HORIZONT fragte Vertreter von Mediaagenturen nach ihrer Einschätzung. So viel vorweg: Einen Abgesang auf TV stimmt keiner an. Aber das Aufgabenbuch der Sender und Vermarkter ist spätestens seit heute prall gefüllt – mit ungewöhnlich deutlichen Forderungen.

Braut sich da gerade der perfekte Sturm zusammen? Es ist eine toxische Mischung aus drei kapitalen Markttrends, denen sich die TV-Konzerne gegenübersehen.

Erstens: Lineares Fernsehen verliert Zuschauer – sehr moderat bis gar nicht bei den älteren Zielgruppen, aber ziemlich heftig bei den jungen. Bei den 14- bis 29-Jährigen sank die tägliche Sehdauer innerhalb von zwei Jahren von 105 auf 82 Minuten. Das ist ein Minus von satten 22 Prozent.

Zweitens: Im boomenden Streaming-Markt treffen die deutschen TV-Konzerne auf globale Player wie Amazon, Disney, Netflix, Apple und Co, deren Finanzkraft schier unerschöpflich ist.

Drittens: Die Werbungtreibenden setzen bei Bewegtbild-Werbung immer stärker auf Youtube und Facebook. Dass die nun auch stärker auf eigenen Content setzen wollen, verschärft die Lage zusätzlich.

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Wie brenzlig ist die Lage wirklich? HORIZONT fragte sechs Vertreter von Mediaagenturen nach ihrer Einschätzung: Matthias Bade (Crossmedia), Christian Gaffal (Havas), Torsten Meyer (Pilot), Christian Müller (OMD), Anja Stockhausen (Publicis) sowie Andrea Zenner (Mediacom). Mike Henkelmann, Director Marketing Consumer Electronics bei Samsung, steuert eine Einschätzung aus Sicht der Geräteindustrie bei.

Matthias Bade, Geschäftsführer Crossmedia

Wie stark wird TV im Jahr 2020 und in den folgenden verlieren?
Dazu muss man kein Prophet sein: Das lineare TV wird 2020 zwischen 2 bis 4 Prozent der Netto-Werbeumsätze verlieren. Also noch vergleichsweise moderat. Dieser Verlust wird aber in den Folgejahren sukzessive zunehmen und sich ausweiten. Das kann man an Märkten wie Großbritannien oder den USA bereits sehen, die uns hier ja traditionell immer ein paar Jahre voraus sind.

Wie beurteilen Sie die Performance der deutschen Sender im Digitalbereich? Ist es vorstellbar, dass die Umsätze dort die Verluste im klassisch linearen Bereich schon (bald) kompensieren?
Ich glaube, dass die Sender es deutlich geschickter anstellen, als seinerzeit die Verlage. Es gibt ja schon durchaus ein solides Angebot bestehend aus Free- und Pay-Angeboten. Dass diese aber die Zuschauer- und damit die Einnahmenverluste des linearen TVs kompensieren können, wage ich zu bezweifeln. Sie können sie sicherlich ein Stück weit abmildern, aber der „Production Value“ von Netflix, Amazon Prime, Apple TV+, Disney+, Sky, Rakuten TV und natürlich auch Youtube ist hier eine übermächtige Konkurrenz. „Game of Thrones“ oder „Star Wars“ sind für die Massen dann doch etwas spannender als „Check. Check“ oder „Jerks“.

Was müssen TV-Vermarkter jetzt tun?
Mehr Vox up ist sicherlich nicht die Antwort. Mir ist es schleierhaft, warum die Vermarkter nicht ihre traditionellen Verkaufsmodelle neu denken, eine einheitliche Reichweitenmessung für ihre linearen und digitalen Bewegtbildangebote etablieren und den Kunden damit dann klare Leistungspakete verkaufen. In der überwiegenden Anzahl ausländischer TV-Märkte kauft man eine vorher definierte Leistung ein. Warum ist das in Deutschland nicht so? Hätte man zudem eine kanalübergreifende Reichweitenmessung, könnte man diese Leistung im Sinne der Kundenziele flexibel ausspielen und hätte gleichzeitig ein sehr starkes Argument gegen die GAFAs dieser Welt. Stattdessen verlieren sich die Vermarkter hierzulande nach wie vor in einer Rabattdiskussion, wo man ein paar weitere Freispots im linearen TV nachgeschmissen bekommt, wenn man auch noch brav 3,80 Euro mehr in digitales Bewegtbild investiert. Kunden haben aber kein Rabattproblem, sie haben ein Kommunikationsproblem. Das gilt es zu lösen und daran müssen die TV-Vermarkter mitwirken.

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Wie sind die Aussagen nun zu bewerten?

Dass TV mit Rückgängen zu rechnen hat, scheint ausgemachte Sache zu sein. In die dramatischen Abgesänge derer, die klassisches Fernsehen für ein Auslaufmodell halten, das auf den Friedhof der Geschichte gehört, wollen die Mediaagenturen aber nicht einstimmen. Doch auch so bleibt das Bild ambivalent.

Was TV helfen könnte, ist eine 2019 neu aufgeflammte Diskussion über Werbewirkungsforschung. Viele Jahre hing die Werbeindustrie – unausgesprochen – einer Art Substitutionstheorie nach. Derzufolge hat es Mediaplaner nicht groß zu bekümmern, wenn Print und TV an Reichweite verlieren, weil man die Konsumenten schließlich auch über andere, vornehmlich digitale Kanäle erreichen kann. Das Problem ist nur: Diese Substitutionstheorie ist falsch, weil sie übersieht, dass die Rezeptionssituation einen entscheidenden Einfluss auf die Wirkung eines Werbekontakts hat. TV und Print lassen sich demnach nicht einfach ersetzen, eben weil sie funktional etwas anderes leisten als Facebook oder Youtube.

Ein zweiter Mega-Trend in den vergangenen Jahren war der rasante Aufstieg von Targeting. Die Idee dahinter: Dank Big Data ist man in der Lage, nur noch die Verbraucher zu erreichen, die man auch tatsächlich erreichen will – Streuverluste werden minimiert, die Werbegelder effizienter verteilt. Doch ganz so einfach ist es nicht. Aktuell sind die negativen Folgen eines zu rigiden Targetings ein viel diskutiertes Thema in der Branche.

Was bleibt unterm Strich? Die Zeiten für TV werden hart, aber einfach so vom Feld gefegt werden RTL und Co dann wohl doch nicht. Was vorbei ist, ist die unangefochtene Vormachtstellung der Fernseh-Gewaltigen. Aufgrund der massiven Rückgänge in den jungen Zielgruppen führt für die Werbungtreibenden kein Weg daran vorbei, bei Bewegtbild-Kampagnen auch auf Youtube, Facebook und Co zu setzen. Die große Frage lautet, wie das richtige Verhältnis aussieht. Bisher – und das ist ein schweres Versäumnis – gibt es noch viel zu wenige belastbare Fakten dafür, was passiert, wenn Unternehmen die Budgets für klassische Branding-Kampagnen in den Massenmedien radikal zusammenstreichen.

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