Crossmedia macht ernst mit Future Work

Mit dem kommenden Jahreswechsel startet der Düsseldorfer Independent ein sechsmonatiges Test- & Learn-Projekt und führt die ortsflexible 35-Stunden-Woche als Gleitzeitmodell ein. Im Interview mit W&V spricht Agenturgründer Markus Biermann über das Konzept:

Ab Januar führt Crossmedia die 35-Stunden-Woche und 6-Tage-Gleitzeit ein – bei gleichem Gehalt und ohne Büropflicht. Wachsen soll das Team nicht. Wie das geht, erzählt Geschäftsführer Markus Biermann.

Für viele in der Branche hat die Arbeitsbelastung in der Coronakrise weiter zugenommen. Crossmedia geht andere Wege. Die unabhängige Mediaagentur reduziert zum 1. Januar 2022 die Wochenarbeitszeit und führt eine 35-Stunden-Woche ein. Wann die Kolleg:innen arbeiten, ist flexibel. Denn es wird eine Wochengleitzeit zwischen 4 und 6 Tagen geben. Auch Samstagsarbeit ist möglich – nur für die, die wollen. Immer im Einklang mit den gesetzlichen Vorschriften, betont Geschäftsführer und Gründer Markus Biermann. Präsenzpflicht im Büro wird es auch nach Corona nicht mehr geben.

Das soll gut für die Kunden sein. Mehr Personal will Crossmedia trotzdem nicht einstellen. Wie das funktioniert, erklärt Biermann im Interview:

Herr Biermann, Sie wollen bei Crossmedia eine 35-Stundenwoche mit 4- bis 6-Tage-Gleitzeit bei flexiblem Arbeitsort einführen. Wie kam es zu dieser Idee?

Wir hatten schon vor Corona den Umzug in ein neues Gebäude geplant und uns deshalb früh mit der Zukunft der Arbeit beschäftigt. Dass es um viel mehr als schöne Möbel geht, haben wir natürlich sehr schnell gemerkt – nicht zuletzt durch die Pandemie, die unser aller Arbeiten von einem Tag auf den anderen komplett umgekrempelt hat. Ich sage immer: Wenn wir das mit der hundertprozentigen Remote-Arbeit als Test aufgesetzt hätten – wir hätten nach kurzer Zeit abgebrochen. Aber dass wir gezwungenermaßen über die Schmerzgrenze hinausgehen mussten, hat uns gezeigt, was alles möglich ist.

Nun wollen wir die positiven Dinge, die wir aus der Coronakrise mitnehmen, in der neuen Realität weitertreiben: Es geht vor allem um Selbstbestimmung und freie und sinnvolle Einteilung der Zeit und des Arbeitsortes. Es geht darum, Arbeit und Privates in Einklang zu bringen und die Arbeitszeit effektiver zu nutzen. Daraus ist diese Idee entstanden.

Kamen da nicht sofort Widerstände auf? Was waren die Bedenken?

In der Tat gab es zu Beginn Widerstände, weil es unterschiedliche Führungsstile gibt, die Idee neu war und die Erfahrungen fehlten. Viele arbeiten mit ihrem Team gern remote, andere lieber vor Ort. Eine konkrete Sorge war, wie die Arbeit schaffbar sei, in drei Stunden pro Woche weniger. Weitere Bedenken waren, dass man remote nicht mal so schnell jemandem eine Aufgabe zurufen kann, sich nicht so schnell austauschen kann oder dass die Verfügbarkeiten weniger transparent sind. Vieles lässt sich schon damit lösen, dass man mehr kommuniziert und Fragen per spontanem Teams-Anruf klärt – die Scheu müssen wir alle ablegen.

Was sind die erhofften Benefits für die Agentur?

Wir erhoffen uns, dass die Zufriedenheit unserer Kolleg:innen steigt, die ihren Tag eigenverantwortlich einteilen können. Wir sehen es als Motivation und als Chance, dass jede:r Einzelne mehr Raum hat, sich persönlich wie fachlich weiterzuentwickeln.

Erhoffen Sie sich auch Vorteile für Ihre Kunden?

Wir glauben, dass wir in der neuen Arbeitsweise noch besser für den Kunden da sein können. Wenn wir den Mitarbeitenden unser Vertrauen schenken, sie frei denken und arbeiten lassen, werden sie besser und das merkt auch der Kunde. Ein Nebenaspekt ist, dass wir an fünf Tagen gleich lang für den Kunden da sind, und freitags nicht mehr am frühen Nachmittag Schluss ist. Sonntagsarbeit wollen wir nicht, aber am Samstag kann ebenso gearbeitet werden.

Ist der Samstag als Arbeitstag strategisch wichtig?

Nein, den sechsten Tag hätte es nicht gebraucht, um unsere Kunden zu bedienen. Aber wir wollen mit der Flexibilität zeigen, dass wir es ernst meinen, dass sich die Kolleg:innen die Arbeitszeit im Sinne der Zielerreichung einteilen können.

Wie stellen Sie die ständige Verfügbarkeit sicher, wenn flexibler gearbeitet wird?

Das erfordert ein Umdenken bei den Teams. Sie werden selbst dafür verantwortlich sein, die Arbeitszeiten so einzuteilen, dass der Kunde zu jeder Zeit entsprechend seiner Anforderungen bedient wird. Dafür sollen die Teams unit- und standortübergreifend enger zusammenarbeiten und sich abstimmen.

Ihre Mitarbeitenden werden weniger arbeiten. Wie kompensieren Sie diese fehlenden Stunden?

Wir gehen davon aus, dass das nicht nötig sein wird. Wir können unsere Mitarbeitenden flexibler und bedarfsgerechter einteilen, und das nicht nur wochen-, sondern monats- und quartalsweise. Dadurch federn wir Spitzen und Flauten in der Arbeitslast besser ab.

Natürlich haben wir trotzdem weiterhin Bedarf an Talenten. Aber auch hier erhoffen wir uns mit dem Modell Vorteile auf dem Arbeitsmarkt, um freie Stellen besser und schneller zu besetzen.

Wie stellen Sie sicher, dass die 35 Stunden auch eingehalten und nicht, wenn es hart auf hart kommt, ständig gerissen werden. 

Ganz ehrlich, wenn es um Arbeitszeit, Gehalt und Sozialleistungen geht, sind wir nicht so schlecht wie der Ruf der Medienbranche. Ich glaube, die gesamte Branche ist besser als ihr Ruf. Der Test im ersten halben Jahr wird zeigen, ob das Konzept eines selbstverantwortlichen Ausgleichs von Plus- und Minusstunden für alle aufgeht, oder ob wir dort gegensteuern müssen, wo es mit den neuen Arbeitszeiten nicht klappt. Da wir die Stunden verringern, das Gehalt aber gleich lassen, gibt es für jede:n nur etwas zu gewinnen. Das ist eine Riesenchance!

Gilt der Plan auch für alle Führungskräfte? 

Der Plan gilt für alle. Bei den Führungskräften läuft das eventuell mit Zeitverzug, vielleicht wird deren Woche von Monat zu Monat eine Stunde kürzer. Sie müssen sich erst umorganisieren und die Verantwortung neu verteilen. Der Rolle der Führungskraft muss sich immer mehr zum Coach des eigenen Teams entwickeln.

Die 35-Stunden-Woche ist erst mal ein Test für ein halbes Jahr, mit dem Ziel, sie zu etablieren. Was kann passieren, dass Sie sie wieder abschaffen? 

Wir ziehen nicht ernsthaft in Betracht, sie wieder abzuschaffen. Das kann ich mir nicht vorstellen. Rein rechtlich könnten wir das, aber dann würde so einiges schieflaufen. Ich glaube, dass alle verantwortlich damit umgehen. Man muss vielleicht nur an der ein oder anderen Stelle nachjustieren.

Wie ist es für Sie persönlich als Geschäftsführer, werden auch Sie Ihre Arbeitszeit auf 35 Stunden reduzieren?

Böse Stimmen würden sagen, dass ich länger arbeiten müsste, um überhaupt auf 35 Stunden zu kommen (lacht). Früher, als ich noch angestellt war, habe ich deutlich mehr gearbeitet als ich es in der Selbständigkeit jemals getan habe. Aber vielleicht empfindet man das auch nur anders, weil der Gestaltungsfreiraum so viel größer ist. Ich bin nun nach fast 25 Jahren Crossmedia in der privilegierten Lage, dass wir tolle Führungskräfte haben, die die Arbeit am Kunden übernehmen. Ich kann mich stattdessen übergeordneten Dingen widmen und mit dem großen Blick Kurskorrekturen für die Agentur als Ganzes vornehmen.

Crossmedia
1997 gründete Markus Biermann Crossmedia. Auch heute, 24 Jahre später arbeitet die mittelständische Mediaagentur unabhängig von den großen Networks. 550 Mitarbeitende und acht Büros in Deutschland, USA und Großbritannien gehören heute zum Unternehmen. 2018 zeichnete W&V Crossmedia als Media-Agentur des Jahres aus. Zum Kundenportfolio gehören Aktion Mensch, Betway, BMW, Bundeswehr, Der Spiegel, Fressnapf, Brax und Lidl. Neuster Zugang ist der Ökostromanbieter Lichtblick.

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